Bedingungslose Hilfe für Obdachlose

Seit Mitte 2020 kümmern sich Streetworker von Gangway e.V. um Menschen, die in Neukölln auf der Straße leben

Tabea Lenk und Cengiz Tanriverdio Foto: Birgit Leiß

Foto: Birgit Leiß

Man sieht sie entlang des Kanals, vor Hauseingängen und in Grünanlagen: Menschen, die umgeben von ihren Habseligkeiten, dort campieren. Die Anzahl wohnungsloser Personen hat sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. Zudem fallen sie im öffentlichen Raum mehr auf, weil sie sich nicht mehr auf altbekannte Plätze, wie etwa Bahnhöfe, konzentrieren. Ein Grund für die Zunahme ist das EU-Freizügigkeitsgesetz, das zum Zuzug von billigen Arbeitskräften aus ärmeren EU-Staaten, vor allem aus Osteuropa, geführt hat. Auf der Suche nach einem besseren Leben werden diese billigen Arbeitskräfte vielfach ausgebeutet, schlecht oder gar nicht bezahlt und landen dann nicht selten auf der Straße. Aber auch Mietschulden, etwa nach dem Scheitern des Mietendeckels, führen immer häufiger dazu, dass Menschen ihre Wohnung verlieren.

Weniger Angebote, eine zersplitterte Szene

Als der Verein Gangway-Straßensozialarbeit in Berlin e.V. mit dem Team Drop Out vor zwei Jahren in Neukölln seine Arbeit aufnahm, stellte man deutliche Unterschiede zu anderen Bezirken fest. Zum einen existieren hier nur wenig Angebote für wohnungslose Menschen. Im gesamten Bezirk gibt es beispielsweise nur eine Wärmestube, wo sich die Menschen tagsüber aufhalten können, nämlich in der Weisestraße 34. Zum anderen sind die Szenen viel gemischter und die Trinker- und die Drogenszene überschneiden sich – weswegen das Team regelmäßig gemeinsam mit Fixpunkt, einer Einrichtung der Drogenhilfe, auf der Straße unterwegs ist. Zudem sind die Adressat*innen, wie sie bei Gangway genannt werden, in Neukölln weniger miteinander vernetzt. Man trifft eher auf Einzelpersonen oder kleine Gruppen.

Vertrauen aufbauen, Hilfe anbieten

„Wir quatschen erstmal über Gott und die Welt“, erklärt Tabea Lenk vom Neuköllner Drop Out-Team über ihre Arbeit. Zusammen mit ihren Kollegen Cengiz Tanriverdio und Sasa Djekic sucht sie die Obdachlosen an ihren Treffpunkten und Schlafplätzen auf. Oberster Grundsatz bei Gangway: man begegnet den Menschen auf Augenhöhe. „Das Wesentliche ist, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und das ist nicht einfach “, sagt Tabea Lenk. Die Streetworker sind bestens vernetzt im Bezirk. Sie arbeiten mit der Sozialen Wohnhilfe und dem Sozialpsychiatrischen Dienst zusammen, ebenso natürlich mit den diversen Übergangshäusern und Notübernachtungen. „Nach einer Weile, wenn uns die Leute besser kennen, fragen sie uns dann vielleicht, ob wir ihnen bei der Suche nach einer medizinischen Behandlung oder einem Behördenproblem helfen können,“ sagt Tabea Lenk.

Ein Zwei-Klassen-Hilfesystem

Ein häufig gehörtes Vorurteil, das Tabea Lenk wütend macht: es gebe doch zahlreiche Übernachtungsangebote, niemand müsse auf der Straße erfrieren. Doch die meisten der Menschen, um die sich das Team kümmert, haben lediglich Anspruch auf ein Bett in einem Mehrbettzimmer. „Das ist kompletter Wahnsinn“, empört sich die Streetworkerin: „Der eine trinkt, der andere bemüht sich, trocken zu bleiben. Außerdem haben viele Leute, die lange auf der Straße leben, psychische Probleme. Die ertragen es einfach nicht, so viele fremde Menschen, um sich zu haben.“ Dazu kommt die – durchaus berechtigte - Angst, beklaut oder angegriffen zu werden. Doch auf bessere Unterkünfte nach dem Paragraphen 67 Sozialgesetzbuch, haben nur Menschen Anspruch, die im Leistungsbezug sind. Das gilt auch für das Modellprojekt „Housing First“ - eigentlich eine tolle Sache, weil sie den Menschen genau das gibt, was sie brauchen: eine Wohnung mit eigenem Mietvertrag, ganz ohne Bedingungen, das heißt ohne Zwang zur Sozialberatung oder zum Entzug. Jedoch fallen auch hier nicht leistungsberechtigte Personen komplett raus.

Die 100 000 Euro-Frage

Auf die Frage, was sie mit 100 000 Euro machen würde, um die Situation zu verbessern, gibt Tabea Lenk daher eine überraschende Antwort. Es sei nicht so sehr Geld vonnöten, sondern ein Umdenken, vor allem ein wirklicher Wille, Obdachlosigkeit zu verhindern. „Wir brauchen Angebote ohne Hürden und zwar für alle.“ Und es müsste endlich Schluss sein mit der Vertreibung von Obdachlosen. Wenn ihre Schlafplätze geräumt werden – was im Falle des Landwehrkanals immer mal wieder diskutiert wird - verlieren die Streetworker den Kontakt und müssen wieder von vorne anfangen.

Schlafen in der Kirche

Ein respektvoller Umgang mit obdachlosen Menschen ist auch der Evangelischen Martin-Luther-Genezareth-Gemeinde ganz wichtig. In den Wintermonaten öffnet sie die Kirche in der Fuldastraße 50 jeden Freitagabend für das Nachtcafé. Wohnungslose Menschen bekommen hier ein warmes Abendessen, eine einfache Schlafgelegenheit und am nächsten Morgen ein Frühstück. Viele sind seit Jahren Stammgäste und schätzen die persönliche, herzliche Atmosphäre, berichtet der Diakon Karl-Heinz-Lange. Das Nachtcafé soll im November wieder starten.

Webredaktion