Ein stolzes Zeugnis des neuen, großstädtischen Neuköllns
Bei der feierlichen Einweihung 1908 schwärmte der damalige Bürgermeister von Rixdorf, Dr. Curt Kaiser, in den höchsten Tönen: „Stolz und wuchtig reckt sich der Turm des neuen Rathauses gen Himmel, ein neues Wahrzeichen in der aufstrebenden Großstadt, herrlich und schön ist der innere Ausbau gegliedert, ein Spiegelbild des geistigen und künstlerischen Könnens unserer Stadt.“ Kein Zweifel, auf ihr repräsentatives Rathaus waren die Rixdorfer Bürger*innen damals mächtig stolz. Auch in der Fachwelt kam der Bau, der bis heute zu den wichtigsten Kommunalbauten Berlins gehört, gut an. Er entstand in einer Zeit, als Rixdorf, das damals noch vor den Toren der Stadt lag, rasant wuchs. Das alte Ratsgebäude, das so genannte Amtshaus an der Erkstraße/Ecke Karl-Marx-Straße platzte längst aus allen Nähten.1905 wurde daher der frischgebackene Stadtbaurat Reinhold Kiehl mit der Planung eines neuen Rathauses beauftragt. Damit verbunden war ein neues Selbstbewusstsein. Das dörfliche Rixdorf war auf dem Weg zur Großstadt – und das sollte mit dem Bauwerk auch demonstriert werden.
Die Göttin Fortuna hat den Überblick
Zwischen 1905 und 1909 entstand auf dem Block zwischen Schönstedtstraße, Donaustraße, Erkstraße und Karl-Marx-Straße ein Gebäudeensemble mit mehreren Flügeln. Kernstück war ein 68 Meter hoher Turm. Auf seiner Spitze: eine 2,20 Meter hohe Statue der Glücksgöttin Fortuna, ein Werk des Bildhauers Josef Rauch, von dem auch der plastische Schmuck des Rathauses stammt. Das Besondere an der Fortuna ist, dass sie beweglich ist. Sie richtet sich stets nach dem Wind und schaut in die entsprechende Richtung. Eine revolutionäre Neuerung war, dass der Verwaltungsbereich vom repräsentativen Teil des Gebäudes getrennt wurde. Der ursprünglich geplante prächtige Festsaaltrakt wurde zwar ebenso wenig realisiert wie der Weinkeller – vermutlich aus Kostengründen – doch noch heute kann man die Entwürfe im Rathaus bestaunen. 1913 wurden durch Kiehls Nachfolger Heinrich Best noch zwei innere Flügelbauten hinzugefügt.
Zerstört im Zweiten Weltkrieg
In den Wirren der letzten Kriegstage wurde der Hauptbau mit dem Turm schwer beschädigt. Einheiten der SS sowie der Hitler-Jugend hatten sich im Haupttrakt verschanzt und lieferten sich Gefechte mit den vorrückenden sowjetischen Truppen. Im Zuge des „Endkampfs um Berlin“ ließ NS-Kreisleiter Karl Wollenberg dann das Rathaus in Brand stecken. Auch die Glücksgöttin Fortuna fiel den Flammen zum Opfer, ebenso die vielen Holzausbauten. Der einzige Raum, in dem heute noch Original-Holzeinbauten zu sehen sind, ist die Verwaltungsbücherei.
Wiederaufbau ohne Pomp
Der Wiederaufbau des einst prächtigen Bauwerks begann 1950 und geriet aus Kostengründen wesentlich schlichter. Die Ruine des alten Amtshauses wurde abgerissen. An ihrer Stelle wurde ein schmucker Vorplatz inklusive Brunnen angelegt. In den Boden eingelassen sind die Wappen der Partnerstädte Neuköllns. Die Fassade mit zahlreichen allegorischen Elementen konnte restauriert werden und auch die Glücksgöttin thront wieder auf der Spitze des Rathausturms und blickt auf das geschäftige Treiben der Karl-Marx-Straße.
Seit 1994 steht das Gebäude unter Denkmalschutz. Heute befinden sich hier nicht nur der Sitz der Bezirksverwaltung, sondern unter anderem die Touristeninformation, eine öffentliche Kantine, das Bürgeramt und eine Beratungsstelle für Wohnungslose aus Rumänien und Bulgarien.
Zum Weiterlesen: das Buch „Rathaus Neukölln – Rathaus Rixdorf“ von Dieter Althans, herausgegeben vom Bezirk Neukölln 2008
Der Neuköllner Stadtführer Reinhold Steinle bietet unterhaltsame Touren zum Rathaus an – inklusive Turmbesteigung. Derzeit finden sie wegen Corona nicht statt. Aktuelle Infos unter www.reinhold-steinle.de/stadtfuehrungen